„Wir brauchen gerechtes Wirtschaften“

Artikel aus der IDSTEINER ZEITUNG vom  07.09.2010 

Von Marion Diefenbach

DISKUSSION Vortrag „Zukunft statt Zocken“mit dem Publizisten Dr. Wolfgang Kessler in Idstein

Der Zeitpunkt - um 12 Uhr am vergangenen Sonntag während der Idsteiner „Tage der Wirtschaft“ - war ebenso ungewöhnlich wie das öffentliche Interesse am Thema der Veranstaltung „Zukunft statt Zocken“ des Idsteiner Friedensbündnisses mit dem Wirtschaftspublizisten Dr. Wolfgang Kessler, das den Clubraum der Idsteiner Stadthalle fast aus den Nähten platzen ließ.

Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer

„So kann es nicht weitergehen“, lautete einer der Kernsätze, dem offensichtlich viele Menschen längst zustimmen: Unser derzeitiger Wirtschafts- und Lebensstil ist nicht aufrecht zu erhalten, denn trotz hohen Wachstums - herbeigeführt durch höheren Konsum für mehr Investitionen und damit mehr Arbeitsplätzen - werde die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer, und der Arbeitsmarkt zerfalle in Minijobs, Projekte und Honorarverträge. Befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeit erschwerten zunehmend stabile Partnerschaften, ein Leben mit Kindern oder gesellschaftliches Engagement. Die „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“ fordere viele Opfer.

Kesslers Thesen: Während sich die Politik nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise vorübergehend zu besinnen schien und mit staatlichen Regularien das Schlimmste verhindert habe, gebe sie inzwischen mit geringeren Steuern für die eigene Klientel längst wieder das zwangsläufig enttäuschende Stück „Warten auf Wachstum“, denn die Grenzen seien vorgezeichnet: Das Klima werde wärmer, und es gebe Kriege um Rohstoffe, denn der Verbrauch sei zu hoch. Die Banker ihrerseits, die sich zunächst einfach in Schweigen gehüllt hättem, spekulierten weiter, indem sie mit billigen Krediten der Europäischen Zentralbank in Ländern mit hohen Zinsen absahnten, und bereiteten so den nächsten „Crash“ vor.

Anhand eindrucksvoller Beispiele zeigte Kessler anschließend mögliche Lösungsansätze auf: So habe beispielsweise die Stadt Basel 1999 durch die Einführung einer Ökoabgabe, die in einen Stromsparfonds fließe und von dort - unabhängig vom Stromverbrauch - als Pauschale pro Bürger und pro Arbeitsplatz in jedem Unternehmen zurückgezahlt werde, den niedrigsten Pro-Kopf-Verbrauch aller Schweizer Städte erreicht.

Vielfach sind solidarischere Konzepte gefragt

Die Botschaft: Wer wenig Strom verbraucht, zahle weniger, erhalte aber gleich viel zurück wie die Verschwender. Weitere Beispiele waren die GLS-Bank in Bochum, deren Eigentümer keine Rendite erhielten, damit günstige Kredite für Kindergärten, Schulen, Biohöfe und Unternehmensgründungen durch Arbeitslose vergeben werden könnten, die Kommune Neuss, deren Stadtverwaltung bei allen Ausschreibungen soziale und ökologische Kriterien berücksichtigte, und die Flachglas Wernberg GmbH im nordbayrischen Weiden, die unter hohem persönlichen Einsatz von ihren Beschäftigten mehrheitlich übernommen und damit vor dem Verkauf gerettet worden sei, was zu einem deutlich solidarischer ausgerichteten Konzept führe.

Im bayrischen Fürstenfeldbruck habe die Landkreisverwaltung zwei revolutionäre Beschlüsse getroffen: Die Priorität regionaler Produkte gegenüber allen anderen und den Ausstieg aus der fossilen und atomaren Energieversorgung bis 2030. Damit sei große Dynamik unter Landwirten und Einzelhändlern ausgelöst worden, die allen zu Gute komme. Solche „Inseln im Gewinnmaximierungs-Kapitalismus“ zeigten, was bei Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen durch die Politik im Großen möglich wäre, sagte Kessler.

Mit Absicherung fürs Alter und Nachhaltigkeit

Für wirkliche Veränderung böten sich fünf Schritte an: Aktive staatliche Wirtschaftspolitik, also nachhaltige Investitionen statt schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme, mehr soziale Sicherheit nach unten, das heißt. Absicherung gegen Armut, Alter und Krankheit, gesetzlicher Mindestlohn und gesetzliche Mindestrente, Arbeitnehmerbeteilligung und andere Unternehmenskonzepte (kleine Unternehmen, die regional produzieren), neue Abgaben auf den Verbrauch endlicher Ressourcen wie etwa in Basel und schließlich ein neuer Umgang mit Geld durch Regulierung, Eigenverantwortung der Finanzinvestoren und Entschleunigung (durch eine Finanzumsatzsteuer auf alle kurzfristigen Geschäfte).

„Wir brauchen wieder einen Schwerpunkt auf lokal und regional im Gegensatz zu global, ein gerechtes und umweltgerechtes Wirtschaften und ein Finanzsystem, das den Menschen dient und nicht umgekehrt.“ Der aus einem katholischen Umfeld am Bodensee stammende Dr. Wolfgang Kessler hat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert, war nach dem Studium als Finanzexperte beim IWF tätig und gründete später bei Rückkehr nach Deutschland ein Pressebüro. Seit Anfang der 90er Jahre ist er Chefredakteur der unabhängigen christlichen Zeitschrift Pubik-Forum und ist Autor oder Mitautor von Bücherm wie „Weltbeben: Auswege aus der Globalisierungsfalle“, „Alles Merkel?“ und „Geld oder Gewissen“.

 

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